Tradierte Moderne? Zur Entwicklung, Begrifflichkeit und Bedeutung von Schlichtung und Mediation in Japan
Abstract
Die in der Überschrift anklingende Frage nach einer traditionellen Verwurzelung von Schlichtung und Mediation im japanischen Recht läßt sich nunmehr abschließend mit einem „Ja und Nein“ beantworten. Die im Japan der Edo-Zeit über einen langen Zeitraum fest etablierte „Schlichtung“ dürfte vermutlich bis in die Gegenwart gesellschaftspsychologische Nachwirkungen in Form einer Aufgeschlossenheit für nichtstreitige Konfliktlösungen haben. Gleichwohl ist diese hoheitlich dekretierte Form der Schlichtung, die kein Teil einer rechtsstaatlichen Ordnung, sondern vielmehr deren funktionaler Ersatz war, nicht mit der modernen, von Freiwilligkeit geprägten Schlichtung gleichzusetzen, die als eine von mehreren verfahrensrechtlichen Alternativen in die japanische Rechtsordnung integriert ist. Letztere steht in keiner direkten institutionellen Tradition des naisai-Verfahrens.
Andererseits ist das Rechtsinstitut der Schlichtung seit dem Beginn der Modernisierung des japanischen Rechts immer wieder zum Einsatz gekommen: zunächst im ausgehenden 19. Jahrhundert als Übergangslösung bis zur Einrichtung der für eine streitige gerichtliche Konfliktlösung erforderlichen Institutionen, dann während der 1920er und 1930er Jahre im Bereich des Miet- und Pachtrechts sowie des Arbeitsrechts zwecks Bewältigung sozialer Spannungen und ab Ende der 1940er Jahre unter Gewährleistung moderner rechtsstaatlicher Rahmenbedingungen für Familien- wie auch Zivilsachen im allgemeinen.
Neben diesen gerichtlichen bzw. gerichtsnahen Schlichtungsverfahren hat sich im Japan der Nachkriegszeit mangels eines hinreichend effizienten und bezahlbaren Zugangs zu den Gerichten eine kaum noch überschaubare Menge von teils administrativen, teils privaten ADR-Institutionen unterschiedlichster Art und Güte etabliert. Dieser Zustand erinnert, ungeachtet aller Unterschiedlichkeit im Einzelnen, insofern an die Edo-Zeit, als es wiederum private Institutionen sind, die anstelle des unwilligen Staates Konfliktlösungsmechanismen zur Verfügung stellen. Obwohl sich der Wildwuchs mit seinen vielfach erheblichen strukturellen Defiziten zunehmend weniger mit rechtsstaatlichen Grundsätzen vereinbaren ließ, haben Gesetzgeber und die Rechtswissenschaft in Japan dieser sich außerhalb der Gesetze vollziehenden Entwicklung jedoch lange Zeit keinerlei Beachtung geschenkt. Der Anstoß, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen, kam vielmehr erst in den 1990er Jahren aus den USA, wo ADR-Verfahren seit Jahrzehnten eine zunehmend wichtigere Rolle bei der Lösung sozialer Konflikte spielen. Auch haben die dortigen Erfahrungen die Ausgestaltung des ADR-Gesetzes von 2004 entscheidend mitgeprägt. Insoweit läßt sich mithin nicht von einer Anknüpfung an die japanische Tradition sprechen. Der Befund ist also auch hier ambivalent.